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Basiswissen

Dieses Basiswissen zeigt auf, wie wir mit dem gemeinsamen Ziel des Badens in vielen Bereichen positiven Wandel anstoßen können.

Denn wenn wir im Neckar baden können … 

→ haben wir ein stärkeres Bewusstsein für Wasser als unsere Lebensgrundlage. (Kapitel 1) 

→ gibt es öffentlichen Raum am und im Wasser für alle. (Kapitel 2) 

→ geben wir den ökologischen Fähigkeiten des Flusses mehr Raum. (Kapitel 3-5) 

→ gestalten wir unseren Fluss gemeinsam in zukunftsfähigen Planungsprozessen. (Kapitel 6)

→ haben wir eine lebenswerte Stadt. (Kapitel 7)

Stuttgart ist in vielen Aspekten sehr lebenswert. Aber obwohl die Stadt das zweitgrößte Mineralwasservorkommen Europas (nach Budapest) hat, fehlt eines ganz besonders: das Wasser in der Stadt. Stuttgart liegt zwar am Neckar, aber nicht am Fluss. Während in Basel im Rhein, in Wien in der Donau und in München in der Isar gebadet wird, ist den meisten Stuttgarter*innen kaum bewusst, dass der Neckar durch die Stadt fließt. Wir haben uns gefragt, warum das eigentlich so ist. Was ist nötig, um die Stadt zu dem zu machen, was sie eigentlich ist? Eine Stadt am Fluss. 

Auf der Suche nach Antworten sind wir auf viele Herausforderungen und genauso viele Potenziale gestoßen. Beispielsweise ist das Baden im Neckar in Stuttgart unter anderem wegen der schlechten Wasserqualität verboten.[1] Diese wird auch dadurch verursacht, dass der natürliche Wasser- und Ökologiekreislauf durch 27 Staustufen und begradigte Uferkanten unterbrochen ist. Hinzu kommt, dass das Abwasser halb Baden-Württembergs in den Neckar abgeleitet wird (wenngleich es vorher geklärt wurde).

Wenn wir Maßnahmen ergreifen würden, die Wasserqualität so zu verbessern, dass wir im Fluss baden können, wäre gleichzeitig ein großer Schritt für eine verbesserte Ökologie und nachhaltige Wasserkreisläufe gemacht. 

Daher sind wir überzeugt: Wenn wir aus dem Spaß am Baden heraus auf die vielfältigen Herausforderungen schauen, können wir zusammen einen positiven Wandel gestalten. Um das zu erreichen, müssen wir gemeinsam die vielfältigen Zusammenhänge verstehen, die hinter unseren Wasserstrukturen stecken und Lösungen entwickeln, die diese berücksichtigen. 

In diesem Basis-Wissen möchten wir euch daher mitnehmen auf eine Wissensreise über das Wasser, den Neckar und welche Rolle das Baden für eine positive Zukunft spielen kann.

• Wasser ist eine unersetzbare Ressource für das Leben.
• Die Klimakrise schafft zunehmend Konflikte um Trinkwasser (auch in Deutschland).

“Kein Leben ohne Wasser.” Dieser Fakt gehört zum selbstverständlichen Wissen. Wasser ist nicht nur eine unersetzbare Ressource für das Leben auf der Erde, sondern auch die wertvollste für den Menschen. Was viele nicht wissen: Nur ein Prozent des Wassers auf dem blauen Planeten steht uns als nutzbares Süßwasser zur Verfügung. Das meiste davon befindet sich im Erdboden. Einen weiteren Anteil befördern die Flüsse auf der ganzen Welt. [2]

Süßwasser ist also besonders wertvoll. Durch Verschmutzungen und die Klimakrise jedoch zunehmend gefährdet. 90% der Folgen der Klimakrise betreffen den Wasserhaushalt.[3] Auf der einen Seite intensivieren sich Starkregen, Hochwasser und steigende Meeresspiegel, auf der anderen Seite Trockenheit und Dürre. Weltweit fallen bereits 60 % der Flüsse zeitweise trocken – Tendenz steigend.

Die Folgen sind gravierend für Menschen und verbliebene Ökosysteme.  Auch das ursprünglich wasserreiche Deutschland hat seit 1990 bereits einen Bodensee voll Wasser verloren. Die Konkurrenzen um das Trinkwasser nehmen also auch hierzulande zu. 

Wir müssen dringend handeln. 

Die Frage der Wasserverfügbarkeit, die Herausforderungen in der Umgestaltung von Infrastrukturen und die Verteilung von Wasser sind allerdings sehr technisch und abstrakt. Um ein stärkeres Bewusstsein für unsere Lebensgrundlage Wasser zu schaffen, nähern wir uns daher mit einem anderen Bild: Die Vorstellung, endlich in einem sauberen Neckar baden zu können. Denn beim Baden sind wir buchstäblich mit dem Wasser verbunden. Denn, was wäre Baden ohne Wasser? 

• In der Antike waren Bäder Orte des gesellschaftlichen und politischen Austauschs.
• Mit dem Beginn der Freizeitgesellschaft wurde der Neckar ein beliebter Badeort – offen für alle.
• Aufgrund der Wasserverschmutzung wurde das Baden ab den 1950er-Jahren eingeschränkt. 
• Heute brauchen wir Badeorte zum kostenfreien Abkühlen an den zunehmenden Hitzetagen.

Nicht zuletzt wegen dieser besonderen Verbindung zwischen Mensch und Wasser, ist das Baden Kultur – und das schon seit tausenden von Jahren: Im antiken Ägypten, Griechenland und Rom wurde das Schwimmen und Baden zur Hochkultur, wie wir sie heute beispielsweise aus Theatern oder Museen kennen. Antike Bäder waren nicht nur Orte der Reinigung, sondern auch des gesellschaftlichen und politischen Austauschs. Mit der Aufklärung kam das Schwimmen als Körperertüchtigung und zur Erziehung in Mode. Der Beginn der Freizeitgesellschaft in der Industrialisierung machte das Schwimmen schließlich zum Breitensport – und das Baden zur beliebten Freizeitbeschäftigung an kalten wie an heißen Tagen. 

In Zukunft nehmen die heißen Tage zu. Nach aktuellen Studien ist es wahrscheinlich, dass die mittleren Durchschnittstemperaturen in Europa um bis zu 6° C gegenüber vorindustrieller Zeit ansteigen. Das bringt unter anderem verheerende Folgen für unseren Wasserhaushalt mit sich und sorgt für immer mehr Hitze – vor allem in der Stadt. Die Hitze lastet auf der Gesundheit der Menschen und führt jährlich zu etwa 1500 Hitzetoten – mehr als das Vierfache der jährlichen tödlichen Verkehrsunfälle. Der Bedarf nach nachhaltig verfügbarer Abkühlung vor der Haustüre nimmt damit immer weiter zu. 

Der Neckar bietet hier ein großes Potenzial – und in der Vergangenheit wurde in ihm auch ganz selbstverständlich gebadet. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts gab es offizielle Badestellen am Neckar in Stuttgart.

Das Baden war eine willkommene Abkühlung, aber auch als Waschmöglichkeit wichtig, da viele Menschen noch kein fließendes Wasser zu Hause hatten. Am Mühlkanal, beim heutigen Leuze, am Max-Eyth-See oder direkt gegenüber vom Stuttgarter Gaskessel sprang man ins Wasser. Es gab also öffentlichen Raum am und im Wasser für alle. 

Der Ausbau des Neckars zur Schifffahrtsstraße hat dem Badekult vorerst keinen Abbruch getan. Mit der zunehmenden Wasserverschmutzung wurde das Baden jedoch ab 1950 eingeschränkt. Seit 1978 ist es in Stuttgart aufgrund von Verunreinigungen durch die Industrie und die städtischen Abwässer durch eine Rechtsverordnung offiziell verboten. 

Nicht nur der Neckar, sondern auch viele weitere natürliche Gewässer wie der Rhein oder die Ruhr litten damals unter einer starken Umweltbelastung. Damit wurde das Baden und Schwimmen in die Frei- und Schwimmbäder verbannt. Diese kosten Eintritt und sind deshalb nicht für alle gleichermaßen zugänglich. Außerdem können sich viele Städte den Unterhalt der Bäder heute nicht mehr leisten und müssen sie schließen. Infolgedessen lernen immer weniger Menschen schwimmen und die Zahl der Badeunfälle steigt drastisch.  

Mit dem Badeverbot verschwanden auch die öffentlichen Räume am Wasser. Die historische Entwicklung des Neckars zeigt auf, wie es dazu kommen konnte. 

• Der Neckar fließt 367 km weit von seiner Quelle im Schwarzwald bis zur Mündung in den Rhein.
• Das Neckartal ist eines der ältesten Siedlungsgebiete Mitteleuropas. 
• Die Industrialisierung forderte neue Infrastrukturen und veränderte den Neckar maßgeblich.
• Der Ausbau zur Binnenschifffahrtsstraße kurbelte Gütertransport und Handel an.
• Ansiedlung der Großindustrie als Grundstein für heutigen Wohlstand.
• Der Neckarkanal ist heute als menschengemachtes Bauwerk ein Kulturdenkmal.

Die Geschichte des Neckars ist beispielhaft für die Veränderung der Rolle von Flüssen in unserer Gesellschaft und kann erklären, wie das Baden als kulturelle Nutzungsform mit dem gesellschaftlichen Fokus auf das industrielle Wirtschaften verdrängt wurde. Als verbindendes Element war und ist der Fluss Lebensader, Infrastrukturelement und Quelle kulturellen Schaffens. Er ist auch der Grund, warum wir heute hier in Stuttgart leben:

Seit jeher siedelten sich Menschen aufgrund der Verfügbarkeit von Frischwasser an Flüssen an. So auch in der Region Stuttgart – das Neckartal gehört zu den ältesten Siedlungsgebieten in Mitteleuropa. Schon vor mehr als 6000 Jahren lebten hier Menschen. Der Neckar war Trinkwasserversorgung und bot Bewässerung für die Landwirtschaft. Auch die Fischerei hatte Tradition. Der Name Neckar kommt aus dem Keltischen und bedeutet „heftiger, böser, schneller Fluss“, denn ursprünglich war er als wildes Gewässer bekannt. Sein natürlicher Lauf veränderte sich häufig. Dennoch wurde schon im 7. Jahrhundert auf dem Neckar Handelsschifffahrt betrieben – zunächst per Floß und später mit Treidelschiffen. So sorgte er für eine frühe wirtschaftliche Entwicklung der Region. Zudem wurde mit Wasserrädern Energie für Mühlen aus dem Fluss gewonnen.

Über Jahrhunderte war der 367 Kilometer lange Fluss die wirtschaftliche Lebensader der Region, denn er fließt quer durch Baden-Württemberg – von seiner Quelle bei Villingen-Schwenningen im Schwarzwald über Stuttgart bis Mannheim, wo er in den Rhein mündet. 

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl der Region Stuttgart rasant an. Es mussten neue Infrastrukturen geschaffen werden für die immer dichtere Besiedlung und die zunehmende Industrialisierung: Eine neue Wasserver- und -entsorgung wurde geschaffen, Transportrouten ausgebaut, Energie durch die Aufstauung gewonnen und Maßnahmen zum Hochwasserschutz für die immer dichter an den Fluss heranwachsenden Städte getroffen. All das veränderte den Neckar maßgeblich. 

Mit dem Bevölkerungswachstum nahm auch die Menge von Abwasser zu. Flüsse boten sich als Abwasserkanäle an. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts wurde das Abwasser Stuttgarts durch den Nesenbach in den Neckar geleitet. Er wurde verdohlt – also unterirdisch geführt – und ist bis heute der Hauptabwasserkanal der Stadt. Lange Zeit wurden die Abwässer ungeklärt in den Neckar abgeleitet; erst 1916 wurde aufgrund der hohen Verschmutzung das erste Klärwerk der Stadt in Mühlhausen gebaut. Hier wurde das Abwasser zunächst nur mechanisch gereinigt. Inzwischen gibt es viele weitere Klärstufen und insgesamt vier Klärwerke in der Stadt. 

Neben dem Abwasser brachte die Industrialisierung eine große Zunahme an Transportgütern. Die Eisenbahn gewann als Transportmittel an Bedeutung und die Flößerei wurde verdrängt. Um die Kapazitäten der Schifffahrt zu erhöhen, wurde 1921 die Neckar AG gegründet – mit dem Ziel, den Neckar von Mannheim bis Plochingen für die Großschifffahrt auszubauen.

Die Strecke ist über 203 Kilometer lang und hat eine Fallhöhe von 160 Metern. Um diesen Höhenunterschied auszugleichen und die ursprüngliche Strömung zu bändigen, wurde der Neckar durch Wehre in riesige „Badewannen“ geteilt. So ist der gesamte Verlauf durch 27 Schleusen bis heute schiffbar und der ursprünglich wilde Fluss konnte zum Hochwasserschutz besser kontrolliert werden. Im Jahr 1958 folgte die Einweihung des Stuttgarter Hafens. Als Bundeswasserstraße gehört der Fluss mitsamt den Uferkanten heute dem Bund und wird von der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung (WSA Neckar) betrieben. Das WSA ist damit auch für den Hochwasserschutz des schiffbaren Teils des Neckars verantwortlich. 

Mit dem Ausbau zur Großschifffahrtsstraße wurden Gütertransport und Handel angekurbelt. Die Großindustrie etablierte sich und legte den Grundstein für den gegenwärtigen Wohlstand in der Region. Hier gegründete Unternehmen agieren auf der ganzen Welt und prägen das gegenwärtige Bild des Flusses in der Stadt. Industriegebäude und Kraftwerke wurden direkt am Fluss gebaut. Sie nutzen bis heute das Neckarwasser als Kühlwasser. Viele Flächen am Fluss wurden dabei privatisiert und gehören privaten Unternehmen oder der EnBW. 

Durch das Bevölkerungswachstum und die Industrialisierung stieg ab 1850 auch der Energiebedarf. Mit der Aufstauung des Neckars für die Schifffahrt wurde er auch für die elektrische Energiegewinnung mittels Wasserkraft umgebaut. Die Wehre stauen das Wasser auf und maximieren so den Durchfluss durch die Turbinen. Mit der Verstromung des Wassers gewann der Fluss an finanziellem Wert. Ein entscheidender Punkt: Der riesige Infrastrukturbau war sehr teuer. Die damaligen Neckarwerke (heute Teil der EnBW) traten damals als Investoren ein und erhielten dafür ein hundertjähriges Verstromungsrecht des Neckarwassers – es gilt noch bis 2034. Deutschlandweit erzeugen heute rund 8000 Wasserkraftwerke bis zu 23 Terrawattstunden Strom. Das entspricht ungefähr 3 % unseres Strombedarfs.

Aus diesen Gründen änderte sich das Bild des Neckars in Stuttgart. Wo er früher noch als Motiv für naturnahe Gemälde und Freizeit-Grußkarten diente, verbindet man heute eher Industriecharme mit ihm – im negativen wie im positiven Sinne. Die Schleusen der Großschifffahrtsstraße wurden zusammen mit den Wasserkraftanlagen und Wehren zum Sinnbild für technische und scheinbar nachhaltige Innovationen. Als menschengemachtes Bauwerk ist der Neckarkanal in seiner Gesamtheit heute sogar ein Kulturdenkmal. Gleichzeitig führte diese Nutzbarmachung zu massiven Eingriffen in das Ökosystem des Flusses. 



• Natürliche Flüsse, wie der Neckar früher, sind dynamisch und übernehmen zahlreiche ökologische Funktionen.
• Der Fluss war auch Gefahr: Etwa durch Hochwasser und die Verbreitung von Krankheiten.

Etwa so wie auf der Abbildung links sah der Neckar in Stuttgart Mitte des 19. Jahrhunderts aus. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt .bereits einige der Uferkanten für Landwirtschaft und Ansiedlungen geändert wurden, war er noch sehr dynamisch und naturnah. Als Ökosystem bot er eine Vielzahl von natürlichen Leistungen, die für den Menschen sowie für die gesamte Flora und Fauna essenziell sind. 

(1) Der Fluss schlängelte sich entlang der Topografie durch die Landschaft, hatte zahlreiche Seitenarme und veränderte immer wieder seinen Lauf. Es gab also viele Neckarinseln, in unterschiedlichsten Größen und Formen. 

(2) Entlang des Flusses schlossen sich früher am Ufer die Auen an: So wird der Bereich neben dem sich ständig ändernden Flusslauf genannt, in dem sich der Fluss ausbreiten kann und der bei Hochwasser überflutet wird. Hier entwickelt sich eine ganz besondere Flora und Fauna.

(3) Der Neckar und die Auen boten unterschiedlichste Lebensräume für Pflanzen und Tiere: Das Flussbett war teilweise sandig oder aus Kies. Es gab einen schnellen Flusslauf, ruhige Seitenarme und auch an den seichten Ufern geschützte Bereiche. In dieser Vielfalt an Lebensbedingungen konnte sich eine hohe Biodiversität entwickeln. Diese Vielfalt und Dynamiken verleihen einem Fluss die selbstreinigende Kraft und sorgen so für eine gute Wasserqualität. Ein weiterer Kreislauf, den der Fluss in seiner natürlichen Form gewährleistet, ist die Bodenbildung durch den Transport von Kies und Sedimenten. Auch Basisleistungen von Nährstoffkreisläufen und die Primärproduktion von Sauerstoff gehören zu den Leistungen natürlicher Flüsse.

(4) Bei Starkregen oder Gletscherschmelze wachsen Flüsse an und treten über die Ufer. Damit werden große Auenflächen bewässert, schaffen neue Lebensräume und puffern das hohe Wasseraufkommen. Natürliche oder naturnahe Flüsse bieten damit auch einen effektiven Hochwasserschutz. Genau diese Dynamik brachte jedoch auch oft das Gegenteil: Der Wasserüberschuss förderte beispielsweise die Verbreitung von Krankheiten. Zudem waren die gewaltigen Dynamiken des Flusses eine Gefahr für die Menschen am Fluss, wie hier im historischen Cannstatt. 

(5) Bereits zu diesem Zeitpunkt hat der Mensch den Flusslauf und die Uferkanten verändert. Dennoch hatte der Neckar noch viel Spielraum. Es waren kaum Flächen am Fluss versiegelt und bebaut.

• Die natürlichen Fähigkeiten des Neckars sind durch die vielen menschlichen Nutzungen gestört. 
• Er wurde aufgestaut, begradigt und belastet durch Verschmutzung sowie Temperaturanstieg.

Heute sieht man am Neckar in Stuttgart nichts mehr von der natürlichen Dynamik und Vielfalt des Flusses. 

(1) Die Siedlungsflächen sind rasant gewachsen und es wurden fast alle ursprünglichen Auenflächen überbaut. Die begradigten und mit Beton gefassten oder mit Spundwänden versehenen Uferkanten, insbesondere im südlichen Stuttgart, lassen keinen Lebensraum für Pflanzen und Tiere übrig. Es gibt auch keinen Zugang mehr zum Wasser. Der einzige verbliebene Seitenarm im Stuttgarter Neckar ist in Untertürkheim und wird zur Energiegewinnung genutzt. 

(2) Wie hier an der Staustufe Bad Cannstatt an der Neckarinsel, stauen die 27 Wehre am Neckar den Fluss auf. Sie ermöglichten die Großschifffahrt und Energiegewinnung am Fluss. Allerdings bilden sie auch Barrieren im Fluss, die den Wasserfluss verlangsamen und die Durchlässigkeit für Fische verhindern. 

(3) Mit der zunehmenden Bevölkerung und Besiedlung nahm auch das Abwasseraufkommen zu. Lange Zeit floss alles Abwasser ungeklärt in die Flüsse. Im 20. Jahrhundert wurden nach und nach die Kläranlagen ausgebaut. Hier im Klärwerk Mühlhausen wird heute das Stuttgarter Abwasser behandelt, bevor es in den Neckar fließt. Insgesamt werden in den Neckar Abwässer von etwa elf Millionen Menschen abgeleitet. Es wird zwar durch ungefähr 590 Kläranlagen geklärt, überlastet das Gewässer aber dennoch, etwa mit Spurenstoffen aus Medikamenten. 

(4) Auch Industrie und Kraftwerke trugen zur Verschmutzung der Flüsse maßgeblich bei. Sie leiteten lange Zeit Abwässer direkt in den Fluss, teilweise auch giftige Chemikalien. Auch die Nutzung zur Kühlung wirkt sich auf die Ökologie aus, da sie hohe Temperaturen und einen geringen Sauerstoffgehalt Wassers verursacht. Hier hat sich jedoch in den letzten 50 Jahren viel getan. Inzwischen gelten strenge Vorschriften für die Nutzung und Einleitung des Neckarwassers. Dennoch machen Spurenstoffe und die warmen Temperaturen in den zunehmenden Hitzesommern dem Neckar zu schaffen. 

(5) Das Baden war und ist bis heute Freizeit und Sport. 1936 wurde aus einer Kiesgrube der Max-Eyth-See im Norden Stuttgarts als Badesee angelegt – sogar mit Sprungturm. Er war eine Erweiterung des Neckars und wurde mit dem Badeverbot aufgrund der schlechten Wasserqualität des Neckars wieder geschlossen. In den Medien vertreten war der See zuletzt im Jahr 2020 wegen des großen Fischsterbens. Er war aufgrund des geringen Wasserdurchflusses und dem dadurch entstehenden Mangel an Sauerstoff im Wasser gekippt.

(6) Der Neckar wird durch das Bundesschifffahrtsamt mittels Staumauern und Wehren auf den Millimeter genau kontrolliert. Dennoch kann es bei Starkregen zu Überflutungen kommen. Die früheren Auenbereiche sind daher Hochwassergefahrengebiete. Die Klimakrise verschärft die Situation und die Natur holt sich ihren Lebensraum auf brutale Weise zurück. Hier in der Region beispielsweise während des Hochwassers Anfang Juni 2024. 

Wir haben den Neckar also fast vollständig verändert, sind an ihn herangewachsen und haben neue Kreisläufe geschaffen. Während ursprünglich der Neckar Trinkwasserquelle war, kommt heute das Stuttgarter Trinkwasser aus dem Bodensee und dem Donauried – einer Flusslandschaft zwischen Ulm und Donauwörth – und fließt, mit dem Regenwasser vermengt, über die Kanalisation und Kläranlagen in den Neckar. So kommen 27,4 % des Neckarwassers aus der Kanalisation.

Aufgestaut, begradigt und belastet durch Verschmutzung und Temperaturanstieg werden dem Fluss seine selbstreinigende Kraft und ökologische Funktion genommen. Das hat gravierende Auswirkungen auf die Wasserqualität: Durch die Zerstörung des natürlichen Ökosystems und die in den Neckar abgeleiteten Abwässer ist sie bis heute an vielen Stellen unzureichend. Wenn wir im Neckar wieder baden wollen, müssen wir also den natürlichen Fähigkeiten des Flusses wieder mehr Raum geben. 

• Durch gemeinsames Handeln wurden bereits das Mittelmeer und unsere Flüsse entgiftet. 
• Flächendeckende Verbesserung der Gewässerökologie gelingt nur durch strukturelle Veränderung und Zusammenarbeit.

Laut dem Umweltbundesamt ist der Neckar kein Einzelfall. Heute befinden sich lediglich 7 % der deutschen Flüsse in einem guten ökologischen Zustand. In den wenigsten Flüssen kann man also bedenkenlos jederzeit baden gehen. 

Dabei hat sich schon viel getan. Der Wert von Flüssen und die Dringlichkeit, ihre natürlichen Leistungen wieder zu aktivieren, wurde bereits erkannt. In den 1970er und 1980er-Jahren wurden wichtige Schritte gegangen, um die Flüsse zu entlasten. Während in den 1960er-Jahren der Rhein noch von kaum geklärten Abwässern und durch Folgen von Chemieunfällen blubberte und in allen Regenbogenfarben schimmerte, traute sich bereits 1988 der Bundesumweltminister Klaus Töpfer medienwirksam darin baden zu gehen. Durch die Umweltbewegung, mediale Aufmerksamkeit und das Engagement vieler lokaler Bürgerinitiativen wurde das Unglaubliche möglich. Es wurden Gesetze erlassen, die die Flüsse schützen sollten und es wurde konsequent kontrolliert. 

Heute wird im Rhein wieder ganz selbstverständlich an vielen Stellen gebadet und auch die Wasserqualität des Neckars verbesserte sich maßgeblich. Vor allem durch den (Aus-)Bau von Kläranlagen und strenge Auflagen zur Nutzung der Flüsse für das Kühlen durch die Industrie. In vielen Gemeinden am Neckar wurde das strikte Badeverbot wieder aufgehoben. Offizielle Badestellen wurden jedoch bis heute nicht eingerichtet. 

Auch ist der Neckar nach wie vor kaum Lebensraum und vor allem heimische Arten sind kaum noch vorhanden. Um nicht nur die schlimmsten Abfälle aus dem Wasser zu halten, sondern auch die ökologischen Fähigkeiten unserer Gewässer zu stärken, wurde im Jahr 2000 ein weiteres wichtiges Instrument eingeführt: die Wasserrahmenrichtlinie (WRRL). Das Ziel der WRRL ist es, bis 2027 alle Oberflächengewässer Europas in einen guten ökologischen Zustand zu überführen. 

Um dieses Ziel zu erreichen, sollen naturnahe Gewässer erhalten und ausgebaute, nicht naturnahe Gewässer in einen naturnahen Zustand rückgeführt werden. Konkret bedeutet das, insbesondere durch Renaturierungsprojekte, Fischtreppen an Wehren und weitere Maßnahmen, wieder Raum für Flora und Fauna zu schaffen. 

Die Umsetzung der Richtlinie ist verpflichtend für Länder und Kommunen und hat vereinzelt schon Wirkung entfaltet: Beispielsweise konnte der Nährstoffgehalt in vielen Gewässern in Deutschland reduziert und damit Belastungen verringert und der Sauerstoffgehalt erhöht werden. Eine Grundeigenschaft von Flüssen, die essentiell ist, um Lebensraum für Fische und verschiedene Pflanzenarten zu sein. 

Am Neckar wurde bisher vor allem die Durchlässigkeit durch bauliche Änderungen erhöht. Das hat aber nur minimale Auswirkungen auf die Zielsetzung: das Erreichen des guten ökologischen und chemischen Zustandes ist für den Neckar bis 2027 in der Region Stuttgart (nach der WRRL das Teilgebiet 42) für alle sechs definierten Bereiche unwahrscheinlich. Dabei sollten die Ziele ursprünglich bereits bis zum Jahr 2015 realisiert werden. Die Zielmarke wird also bereits zum zweiten mal überschritten. 

Die flächendeckende Umsetzung kommt also am Neckar kaum voran. Andernorts sieht das ganz ähnlich aus. Eine Studie des Senckenberg Instituts zeigt auf, dass viele Renaturierungsprojekte nicht den erwünschten Effekt bringen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass in der Planung dieser Projekte die großräumigen und strukturellen Zusammenhänge nicht ausreichend berücksichtigt werden. Beispielsweise, wie viel Nähr- und Schadstoffe tatsächlich in das Gewässer gelangen, oder ob eine Quellpopulation von Fischen im Einzugsgebiet existiert, die sich in diesem neuen Lebensraum ansiedeln können. Auch fehlen ausreichend große Flächen, damit die Renaturierung tatsächlich einen messbaren Effekt auf die Dynamiken der Flüsse haben kann.

Die punktuelle Umsetzung steht also nicht im Verhältnis zu den strukturellen Problemen und der Dringlichkeit, mit der gehandelt werden müsste. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir die Vielfalt an Themen und Akteuren gesehen, die zusammen gedacht werden müssen: Von der Schifffahrt, Ökologie, Naherholung und Industrie bis hin zu unseren städtischen Wasserinfrastrukturen. Zudem sind die Grundstücke am Ufer des Neckars für andere Nutzungen besetzt, kleinteilig und oftmals in privater Hand: Gewerbe und Landwirtschaft, Bundesstraßen, Zugstrecken oder schlicht Wohnquartiere. 

Um einen nachhaltigen und klimagerechten Lebens- und Erholungsraum zu schaffen, müssen wir neu priorisieren und dem Fluss mehr Raum geben – dafür brauchen wir eine großräumige und ganzheitliche Betrachtung der Themen. Vor allem aber auch: mehr Zusammenarbeit. Wir benötigen zukunftsfähige Planungsprozesse, in denen wir gemeinsam den Fluss gestalten können.


Dass das auch im großen Maßstab gelingen kann, zeigt das Mittelmeer. Wie der Rhein wurden auch hier Abwässer unkontrolliert entsorgt. Mit dem sogenannten Abkommen von Barcelona einigten sich im Jahr 1976 alle Anrainerstaaten auf gemeinsame Standards gegen die Verschmutzung. Das verhalf vor allem auch dem Tourismus – das Baden im glasklaren Mittelmeer gehört für viele von uns zum Sommer wie der Pommes-Geruch zum Freibad. War aber lange Zeit nicht selbstverständlich.

• Das Badeverbot und die gestörte Fluss-Ökologie haben die gleichen Ursachen. 
• Klare Ziele, wie das Baden, helfen, Synergien zu finden und loszulegen.

Wie schön wäre es,  

Wir haben gesehen, wie die Gewässerökologie die Wasserqualität bedingt und die Wasserqualität das Baden. Die Begradigung und Verschmutzung der Flüsse sind also nicht nur Grund für die schlechte ökologische Qualität des Neckars, sondern auch bis heute ausschlaggebende Faktoren für das bestehende Badeverbot in Stuttgart: Aufgrund der steilen, begradigten Uferkanten gibt es sicherheitstechnische Bedenken. Wegen der Schadstoffeinträge und der geringen Selbstreinigungskraft des Flusses ist die Wasserqualität nicht gut genug. Um dem entgegen zu treten und den Neckar sicher schwimmbar zu machen, müssen strukturell und großflächige Maßnahmen umgesetzt werden. 

Die Frage nach dem Baden im Neckar ist also direkt mit dem regionalen Wohlstand und unserem Alltag verwoben: 

Große Ziele schaffen Realität. Für den regionalen Wohlstand und den Luxus von fließendem Wasser in jedem Haushalt, haben wir den Neckar zu dem gemacht, was er heute ist. Heute haben wir ein neues Bild von einer lebenswerten Gesellschaft, in der auch Naherholung und Klimaanpassung Platz finden müssen. können wir gemeinsam unsere Städte und Flüsse auch ganz anders denken. 

Wenn der Fluss fürs Baden gut ist, ist er für alle gut. Auch Flora und Fauna und diejenigen, die nur am Ufer bleiben wollen. 

QUELLEN

[1] Landeshauptstadt Stuttgart: Beantwortung zur Anfrage “Stadt am Fluss - Baden im Neckar” vom 20.01.2012. URL: https://neckarinsel.eu/de/wissen?id=stellungnahme-baden-im-neckar
[2] ARTE: Unser Wasser. 2020. URL: https://neckarinsel.eu/de/wissen?id=unser-wasser-faszinierende-wunderwelten
[3] DIE ZEIT. Habekuß, F.: Hüter des Wassers. 2023
[4]
[5]

Ziele

Wir wollen die Zusammenhänge unserer Wasserkreisläufe verstehen.

Wir wollen herausfinden, wie wir zu einer wassergerechten Zukunft gelangen.

Wissensbasis

Wir sind überzeugt: Wir können positiven Wandel nur erreichen, wenn wir gemeinsam die komplexen Zusammenhänge verstehen, die hinter unseren Wasserstrukturen stecken. Hier gelangst du zu unserem Wissenspool:

Wissenspool

Projektverantwortliche

Hannah, Friederike, Simon, Tim, Tine, Felix

Mitmachen / Kollaboration

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